Indie-Sleaze-Ästhetik: Warum das Lebensgefühl der Nullerjahre jetzt zurück ist – und was daran ermutigend ist
Grelle Blitzlichtfotos, pixelige Digi-Cam-Shots und individuelle Vintage-Looks: Die Social-Media-Feeds wirken gerade wie ein wilder Sprung zurück in die Nullerjahre. Stars wie Popsängerin Addison Rae, Musiker The Dare oder Model Alex Consani inszenieren sich mit einer Ästhetik, die roh, ungeschönt und hemmungslos wirkt. Durch sie ist Indie Sleaze plötzlich wieder da, jener unperfekte Mode- und Lifestyle-Trend der Nullerjahre, der durch exzessive Partykultur und Vintage-Flair geprägt ist. Es geht nicht nur um Ästhetik, sondern auch um die Attitüde. Ein bewusster Bruch mit dem Hochglanz, ein Flirt mit dem Durcheinander und eine Rückbesinnung auf Subkultur als Inspirationsquelle. Und so erfinden sich die jungen Erstteilnehmer:innen neu – mit Altem: Gadgets wie Kabelkopfhörer, verschwommene iPhone-5-Spiegel-Selfies und abgerockte Chucks. Diese feiern selbst auf den Laufstegen von Paris bis Mailand ihr überraschendes Revival. Kein Wunder, denn Musikerin Charli XCX aka “Party-Girl der Stunde” brachte zum Spätsommer mit Converse ihre Version des ikonischen Schuhs heraus.
Sleaze-Ästhetik: Von Party-Exzessen zu Popkultur
Die It-Girls, die den Look in den Neunziger- und 2000er-Jahren mitbegründeten, heißen Kate Moss, Alexa Chung und Sky Ferreira. Relikte dieser Ära sind unzählige Paparazzi-Blitzlichtaufnahmen von ihnen, meist nach durchzechten Nächten und mit verwischtem Make-up. Zu Beginn der 2010er-Jahre blühte die Sleaze-Ästhetik noch mal richtig auf – in der Anfangszeit von Instagram, als Tumblr noch die Trends der damaligen Fashion-Szene hervorbrachte, Stilikone war Effy Stonem aus der Serie “Skins”. Im Jahr 2024 dann die ersten Anzeichen eines Comebacks: Auf Depop, einer internationalen Social-Shopping-Plattform, auf der vor allem junge Nutzer:innen Secondhandmode kaufen und verkaufen, stieg die Suche nach “Indie Sleaze” um 43 Prozent. Erfrischend für viele: Der Look strebt nicht nach Perfektion, im Gegenteil. Laut Dictionary.com werden mit dem Begriff “Sleaze” Adjektive wie vulgär und schäbig in Verbindung gebracht. Abgerockt, würde man wohl bei uns sagen. Damit fällt der Style auf in einer Welt, die dank der Clean-Girl-Ästhetik mit ihrem Beige-Pastell-Filter für jeden noch so kleinen Makel eine Lösung parat hat. Die Message von Sleaze ist deutlich: Do whatever the fuck you want, nobody cares.
Das Sleaze-Revival auf und abseits der Laufstege
Heutzutage werden uns neue Trends wie Espresso serviert – einmal daran genippt und schon wieder passé: Office Siren, Barbie-Core, Ballet-Core, Whatever-Core. Im Gegensatz dazu hält sich der Sleaze-Style seit Jahrzehnten hartnäckig in der Popkultur, wenn auch phasenweise im Hintergrund. In diesen Zeiten ist das ganzheitliche Comeback keine Überraschung. Das Sleaze-Revival ist eine Reaktion auf die Vielzahl der “Jahrhundert-Ereignisse”, die in den vergangenen Jahren stattgefunden haben; dazu zählen ökonomische Unsicherheiten, die sich zuspitzende Klimakatastrophe, die Covid-19-Pandemie, zivile Unruhen und Kriege. Getreu dem Motto: Warum soll ich perfekt aussehen, wenn die Welt im Chaos versinkt?
Auch unserem Verlangen nach “Vibes” zollt der Trend Tribut – nicht mehr ein Teil oder ein Label ist angesagt, sondern ein Lebensgefühl muss transportiert werden: das Make-up von gestern, Laufmaschen in der Strumpfhose, zerzauste Haare, ein müder Blick. Soll signalisieren: Ich komme gerade von einer krassen Party, ich hatte richtig Spaß, habe das Leben genossen, aber no big deal. Sleaze ist ein wilder Charakterzug in einer immer noch sehr bedachten Gesellschaft. Ungefiltert. Es lebt von “Bisschen drüber” und Reizüberflutung: Nietengürtel, Schals à la Pete Doherty, Zigaretten als Requisite (gesundheitliche Risiken? Who cares?), Sonnenbrillen, die vor den Strobo-Lichtern der Nacht schützen. Sleaze ist gewollt-ungewollt, ironisch überinszeniert, mit einem gewissen Grad an Chaos und dabei (scheinbar) unbemüht expressiv. Labels sind egal, es zählt nicht, was du trägst, sondern wie sehr du’s fühlst.

